Mössinger Generalstreik
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Soziales und kulturelles Leben in Mössingen

Jahrzehntelang hatte die evangelische Kirche das kulturelle Leben der Mössinger geprägt. Vor allem der Pietismus hatte im 19. Jahrhundert für die in ärmlichen Verhältnissen lebenden Steinlachtäler eine große Anziehungskraft. Nicht selten bestimmte er neben dem Arbeitsleben nahezu den gesamten Alltag. Abwechslung brachten lediglich die jahreszeitlichen Feste wie Pfingsten mit ihren Tanzvergnügen, die persönlichen Feiern wie Hochzeiten oder Wirtshausbesuche. Zwar versuchte der strenge Pietismus, wie er sich vor allem in Belsen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatte, diese weltlichen Vergnügungen zu unterbinden und das Leben des Einzelnen vollständig dem Glauben unterzuordnen, aber allgemein verbindlich ließ sich das nie durchsetzen.

 

Vor allem die Jugend rebellierte. Im 19. Jahrhundert war noch der Brauch der „Lichtstuben“ und „Quartiere“ weit verbreitet, in denen sich unverheiratete Mädchen und Jungen nach Altersgruppen und Geschlecht getrennt trafen. Die Zusammenkünfte fanden winters in der Wohnung eines verheirateten Paares statt, die als Hauseltern gegen ein geringes Entgelt ihre Stuben zur Verfügung stellten. Mädchen gingen ab dem Alter von 14 Jahren in die „Lichtstube“, wo sie ihre Zeit mit Gesprächen und Handarbeiten verbrachten. Jungen kamen ins „Quartier“, unterhielten sich, spielten Karten und tranken Bier. Man besuchte sich auch in den „Stuben“, was die Kirchenvertreter nicht gerne sahen. Im Sommer verabredete man sich innerhalb der Altersgruppen dann auch des Öfteren im Freien. Verheiratete Erwachsene hatten neben der Arbeit nur wenig Freizeit. Wurde diese nicht im kirchlichen Umfeld verbracht, blieb dem Männern der Gang in die Wirtschaft und den Frauen der Plausch mit der Nachbarin. 

 

Um die Wende zum 20. Jahrhundert begann sich das Freizeitverhalten zu ändern. Zwar gab es schon seit 1836 einen Gesangverein, aber diesen besuchte lediglich eine geringe Anzahl „gestandener Männer“. Auch der erste Turnverein, der von 1898 bis 1900 bestand, hatte nur wenige Mitglieder. Dies änderte sich mit der Neugründung im Jahre 1904. Von Anfang an kümmerte sich ein „Zöglingswart“ um die Jugend. Der Turnverein trat schon bald dem Arbeiterturnerbund bei und wurde zunehmend von den Mössinger Linken dominiert. Diese baute ihre Basis im Mössinger Vereinswesen immer mehr aus: 1912 kam der Arbeiterradfahrverein dazu, 1922 schließlich der Arbeitergesangverein. 1920 wurde das „Arbeiter-Sportkartell“ gegründet, das sich 1925 in Eigeninitiative sogar eine eigene Turnhalle baute. Diese Langgass-Turnhalle war die größte Halle in der näheren Umgebung und entwickelte sich zu einer Art Kulturzentrum für die Mössinger Arbeitervereine. Neben Sportveranstaltungen und Vereinsfeiern fanden hier auch  politische Veranstaltungen und Theateraufführungen statt. Eine 1924 gegründete Turngemeinde verstand sich im Gegensatz zu den Arbeitersportvereinen als „politisch neutral“. Sie verkümmerte aber über die Jahre hinweg und konnte sich nur durch den Übertritt der Fußballer des ATV im Jahr 1928 wieder aktivieren, die aber 1932 mit dem Verein für Rasensport (VfR) ihren eigenen Verein gründeten.

 

Innerhalb der dörflichen Lebenswelt der Arbeiter, Handwerker und Kleinbauern hatten sich in einer milieuinternen Auseinandersetzung die Anhänger der KPD immer mehr durchgesetzt. Sie dominierten die Sportvereine und – was überregional bemerkenswert war – auch den örtlichen Konsumverein mit seinen fünf Filialen, der für die Genossenschaftsmitglieder eine wichtige Bezugsquelle für Grundnahrungsmittel war. Andernorts waren es in aller Regel Sozialdemokraten, die diese Einkaufsgenossenschaften organisierten.

 

Vor allem die Jugend des Ortes wurde von der Turnhalle und den Veranstaltungen dort angezogen. Die Jahrgangsgruppen verloren zunehmend an Bedeutung und auch die bürgerlichen Vereine rückten in den Hintergrund. Lediglich das Fußballspielen, das bei den Linken lange Zeit verpönt war, verschaffte der Turngemeinde bis zur Gründung eines eigenen Fußballvereins nochmals einen gewissen Aufschwung.

 

Um 1930 begannen sich die Mössinger KPD-Anhänger zunehmend zu radikalisieren und sich gegenüber dem aufkommenden Nationalsozialismus zu positionieren. 1930 wurden Ortsgruppen des „Kampfbundes gegen den Faschismus“ und der „Roten Hilfe“ gegründet. 1932 trat der ATV vom Arbeiterturn- und Sportbund e.V. zum kommunistischen Rotsportbund über. Zudem entstand eine Gruppe der „Antifaschistischen Aktion“ mit einer Trommler- und Pfeifertruppe, an der sich auch Nichtkommunisten beteiligten. Nach wie vor kooperierte man mit den wenigen Anhängern der SPD. Vom Bruderkampf der Arbeiterparteien, sowie von der „Sozialfaschismusthese“ wonach die SPD den „linken Flügel des Faschismus“ darstellte, war in Mössingen wenig zu spüren.

  

Wie in der KPD engagierten sich auch in den Arbeitervereinen viele Handwerker. Ein guter Teil von ihnen war sogar selbstständig, was ein Licht auf die besondere Mössinger Sozialstruktur wirft, denn auch als Besitzer eines kleinen handwerklichen Betriebs lebte man am Existenzminimum und solidarisierte sich mit den Zielen der Arbeiterschaft. Trotz der Verankerung der KPD-Anhänger in diesem Arbeiter- und Handwerkermilieu und in den mitgliederstärksten örtlichen Vereinen und auch trotz ihrer Dominanz im Kulturleben blieb das bevölkerungsreiche Dorf nach wie vor stark bäuerlich und pietistisch geprägt – Mössingen war kommunistisch-pietistisch.