Mössinger Generalstreik
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Vom Handwerker- und Bauerndorf zur Industriegemeinde

Die Mössinger Markung im Steinlachtal, südlich von Tübingen am Nordrand der Schwäbischen Alb gelegen, war von alters her dicht besiedelt. Die Bevölkerung Mössingens und des Filialorts Belsen lebte von der Landwirtschaft, aber die Arbeitsbedingungen waren hart. Zunehmend wirkten sich auch die Folgen des Erbrechts aus. Gemäß der Realteilung, die in weiten Teilen Württembergs galt, musste der gesamte Besitz unter allen Erbberechtigten aufgeteilt werden. Über die Generationen hinweg wurden deshalb auch in Mössingen die Grundstücke immer kleiner, bis die Größe dieser „Handtuchfelder“ kaum ausreichte, um eine Familie zu ernähren.

 

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts sorgte zunächst die weit verbreitete Branntweinbrennerei für zusätzliche Einnahmen. Den Schnaps verkaufte man weit über die Region hinaus. Doch bald nahm die Not wieder zu und viele Mössinger mussten sich nach einem Nebenerwerb umsehen, einem einfachen Handwerk wie etwa dem des Rechen- und Gabelmachers, das sich in Kombination mit einer kleinen Landwirtschaft ausüben ließ. Andere gingen als Saison- oder Wanderarbeiter in die Fremde, etwa nach Frankreich oder in die Schweiz. Dort kamen einige mit sozialistischem Gedankengut in Berührung, das bei der Rückkehr ins Steinlachtal seinen Niederschlag fand. Nicht wenige Mössinger entschieden sich gleich, das Dorf für immer zu verlassen. Zwischen 1871 und 1895 wanderten etwa dreißig Prozent der Einwohner aus, die meisten nach Amerika. Die Auswanderungsrate in Mössingen war in dieser Zeit  eine der höchsten in ganz Württemberg. Migration hatte damals bereits Tradition in der Region. Schon Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts waren viele Steinlachtäler ausgewandert, zunächst nach „Preußisch Polen“, dann nach Südrussland und bis ans Schwarze Meer.

 

1869 wurde das Dorf an das württembergische Eisenbahnnetz angeschlossen. Die Strecke führte von Tübingen über Mössingen nach Hechingen. Bald darauf siedelten sich die ersten Industriebetriebe im Ort an, die Buntweberei Hummel und die Seidenspinnerei Amann & Söhne. Trotz der neuen Arbeitsplätze in der Industrie blieben die Lebensumstände der Bevölkerung prekär. In beiden Textilbetrieben fanden insbesondere junge Mädchen eine Anstellung. Die Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen Kunststeinwerke boten hingegen einigen Männern einen Arbeitsplatz. Aber auch dort waren die Löhne niedrig. Mössingen blieb weiterhin ein Auspendlerdorf, das heißt die auswärts arbeitenden Männer und Frauen mussten frühmorgens mit dem Zug in die umliegenden kleinen Industrieorte fahren und kamen oft erst spät abends zurück.  

 

Bis in das erste Drittel des 20. Jahrhunderts änderte sich wenig an der Erwerbslage im Dorf. Die Löhne stiegen kaum, auch als mit der Buntweberei Burkhardt ein dritter größerer Textilbetrieb hinzukam. Die Buntweberei Hummel war nach verschiedenen Besitzerwechseln 1919 ins Eigentum der Gebrüder Löwenstein übergegangen und hieß nun Mechanische Weberei Pausa. Otto Merz führte seit 1925 die Firma Ammann & Söhne als Trikotwarenfabrik Merz weiter. Insgesamt beschäftigten die drei Betriebe 454 Arbeiter, 52 Prozent davon waren Frauen. Noch immer wanderten viele Mössinger aus. Vor Ort gab es zwar nach wie vor eine stattliche Anzahl an Handwerksbetrieben, doch auch deren Mitarbeiter mussten sich nebenher als so genannte „Mondscheinbauern“ ein Zubrot in ihrer kleinen Landwirtschaft verdienen.

 

Auch die Einwohnerzahl veränderte sich bis Mitte des 20. Jahrhunderts kaum. Über ein Jahrhundert hinweg hatte sie sich trotz hoher Geburtenraten konstant zwischen 3500 und 4000 Einwohner bewegt. In regelmäßigen Abständen nahm die Bevölkerung um mehrere hundert Personen ab, weil viele Mössinger sich gezwungen sahen, auszuwandern und ein Auskommen in der Fremde zu suchen. Dies zeigt, dass die Erwerbsmöglichkeiten eingeschränkt blieben.