Mössinger Generalstreik
MENU

Mössingen heute

Anders als zehn Jahre zuvor zeichneten sich im Vorfeld des achtzigsten Gedenktags am 31. Januar 2013 lebhafte und kontroverse Diskussionen ab. Das Theater Lindenhof kündigte an, ein Stück zum Mössinger Generalstreik zu präsentieren. Im Februar 2012 stellte die Freie Wählervereinigung dann einen Antrag im Gemeinderat zur erneuten wissenschaftlichen Untersuchung des Themas. Dieser fand eine Mehrheit. Verbunden mit einem Betrag von 5.400 Euro sollte an einem Lehrstuhl für Geschichte eine Abschluss- oder Doktorarbeit in Auftrag gegeben werden, die u. a. „die politischen Ziele der Akteure des Generalstreiks und deren Einstellung zur Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte […] untersucht“.

In seiner Stellungnahme zu diesem Gemeinderatsbeschluss machte Professor Ewald Frie vom Seminar für Neuere Geschichte an der Universität Tübingen deutlich, dass neue Erkenntnisse erst nach mehreren Jahren Forschungsarbeit zu erwarten wären. Angesichts des bevorstehenden Jubiläumsjahrs riet er stattdessen zu diskursiven Formen mit einer breiten Beteiligung der Öffentlichkeit.

 

Im Juli 2012 präsentierten Professor Bernd-Jürgen Warneken und der Mössinger Museumsleiter Hermann Berner die überarbeitete und erweiterte Neuauflage des im Talheimer Verlag erschienenen Buches „Da ist nirgends nichts gewesen außer hier“.  In dieser Zeit wurden vermehrt kritische Stimmen laut, die den Autoren den Vorwurf der Einseitigkeit und Falschdarstellung machten. Außerdem wurde kritisch gefragt, was die Mössinger von den Gräueltaten unter Stalin wussten? Wie wären sie im Falle einer Machterlangung mit ihren politischen Gegnern umgegangen? Und darf man Feinden der Demokratie überhaupt positiv gedenken? Mit diesen Fragen wurden dann auch die Referenten konfrontiert, die am 26. Oktober 2012  an der  Podiumsdiskussion "Was war sonst außer hier? Württemberg am Ende der Weimarer Republik – linker Widerstand – Erinnerung" teilnahmen. Manfred Maier vom Georg-Elser-Arbeitskreis Heidenheim, Dr. Thomas Schnabel vom Haus der Geschichte Baden-Württemberg und Professor Reinhold Weber von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg nahmen zur Legitimität der Gewaltanwendung beim Streik und zum „Stalinismusvorwurf“ Stellung. Sie machten deutlich, dass der Mössinger KPD die Lokalpolitik wesentlich näher lag als die große Parteilinie und dass bei der Frage der Würdigung des Widerstands nicht die Grundrechte der BRD gelten können, sondern alles gedenkwürdig ist, „was versucht hat, die Katastrophe des Dritten Reiches zu verhindern“. 

 

Im November 2012 veranstaltete der Talheimer Verlag als Auftakt einer langen Veranstaltungsreihe zu den Themen Nationalsozialismus und Faschismus ein Fachsymposium zum Mössinger Generalstreik mit den Herausgebern des neu aufgelegten Generalstreikbuches, einigen Autoren der ersten Auflage, der Tochter eines Generalstreikteilnehmers sowie mit Vertretern des Theaters Lindenhof. Wenig später wandte sich die Interessengruppe für Mössinger Geschichte um Paul Guckers Sohn Ernst und vier Gemeinderäte der Fraktionen FWV und CDU im Amtsblatt „Gegen einseitige und glorifizierende Berichterstattung“. Gemeinsam warben sie für den Kauf von Restexemplaren des Buches von Paul Gucker „Mössingen und der Generalstreik am 31. Januar 1933“. Das Buch, dessen Neuauflage zunächst geplant war, wurde schließlich im Internet zugänglich gemacht.  

In Anbetracht der hitzigen Diskussion der Vormonate erläuterte Professor Ewald Frie bei der Gedenkveranstaltung am 31. Januar 2013 vor 400 Zuhörern in der Langgass-Turnhalle, dass er dem einzelnen nicht sagen könne, was er über den 31. Januar  zu denken habe, führte dann aber aus: „Unter benennbaren besonderen Randbedingungen haben [die Mössinger] am 31. Januar aus benennbaren Gründen versucht, ein Zeichen gegen die Machtergreifung zu setzen […] Sie haben es getan, und sie haben dafür bezahlt. Das verdient Anerkennung […] Der Mössinger Generalstreik sollte einen festen Ort in der politischen Bildung des Landes Baden Württemberg bekommen. Nicht, weil er makellos und heldenhaft wäre. Das war er nicht. Sondern weil er ein ganz frühes Zeichen des Widerstandes ist. Und weil er ermöglicht, Fragen zu stellen, die heute aktuell sind: nach lokalem Engagement und dessen überregionaler Einbindung, nach der demokratischen Mitte und den Folgen ihres Verlusts, nach dem kurzfristigen Handeln in Bedrohungssituationen und dessen langfristigen Folgen. Der Mössinger Generalstreik ist und bleibt ein schwieriger Erinnerungsort. Das ist gut so, denn einfache Menschen gibt es nicht.“

 

Mit der Gedenkveranstaltung wurde zugleich die in der Kulturscheune von Hermann Berner neu überarbeitete Ausstellung „Mössingen, 31. Januar 1933“ eröffnet. Im Mittelpunkt dieser Ausstellung standen die Ereignisse damals und Biografien der Hauptakteure des Streiks. Dieses Mal war die Ausstellung bis zum Ende des Jahres zu sehen und von zahlreichen Begleitveranstaltungen umrahmt, wie etwa einem Abend mit Nachfahren der Generalstreikteilnehmer. Zudem zeigte das Stadtarchiv Mössingen im Rathaus eine Ausstellung unter dem Titel „80 Jahre Mössinger Generalstreik – 1933 bis 2013“, in der schwerpunktmäßig die Rezeptions- und Erinnerungsgeschichte des Generalstreiks aufgearbeitet wurde.

 

Im April 2013 lud die Interessengruppe für Mössinger Geschichte zur Veranschaulichung ihrer Standpunkte in die Pausa Tonnenhalle zu einem „Faktencheck zum Mössinger Generalstreik“ ein, bei dem sie die demokratiefeindliche Ausrichtung der KPD und deren Wissen um die stalinistischen Gräueltaten analysierte sowie den Begriff des „Generalstreiks“ und dessen Einzigartigkeit hinterfragte. Als weitere Argumente für eine Relativierung der Tat führte sie den Vorwurf der Gewaltanwendung bei der Firma Merz sowie eine vermeintliche Todesliste der KPD im Falle des gelungenen Umsturzes an.

 

Die im Mai erfolgte Premiere des von Franz Xaver Ott im Theater Lindenhof verfassten und von Regisseur Philipp Becker inszenierten Theaterstücks „Ein Dorf im Widerstand“ in der Bogenhalle der ehemaligen Textilfabrik Pausa schien nun alle Seiten zu begeistern. Das Stück kam unterstützt von der Stadt Mössingen 2013 und 2014 mit über 100 Laienschauspielern und 40 Musikern mehr als dreißigmal vor ausverkauftem Haus auf die Bühne, davon zweimal im Juni 2013 bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen. Für die Inszenierung wurde das Theater Lindenhof  im Juni 2014 von der Bundesregierung mit dem BKM-Preis für kulturelle Bildung ausgezeichnet, verbunden mit einem Preisgeld von EUR 20 000,--.

2013 präsentierte auch der Landesbildungsserver Baden-Württemberg ein neues Landeskundemodul mit umfassender Materialsammlung für die Vermittlung des Mössinger Generalstreiks im Schulunterricht.

 

Zur Abrundung des Gedenkjahres sprach schließlich im September 2013 der Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin Professor Peter Steinbach in der Quenstedt-Aula über den „Gedenkwürdigen Mössinger Generalstreik“ und machte den Mössingern „Mut zur Erinnerung“: „Nutzen Sie die Chance, die Sie in diesem Ort haben […] Sie haben hier in Mössingen einen historischen Schatz. Und ich würde Ihnen wünschen, dass Sie ihn erkennen, dass Sie ihn heben und mit ihm leben, dass Sie ihn pflegen.“ 

 

Auch an den folgenden Jahrestagen gab es verschiedene Veranstaltungen: So fand zum 81. Jahrestag 2014 auf Initiative der Stadt Mössingen und des Kreisarchivs Tübingen eine Stadtführung „Auf den Spuren des Mössinger Generalstreiks“ mit Jugendguides statt, also mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die NS-Geschichte in der Region vermitteln. Dieser Stadtrundgang wird seither im Programm der Volkshochschule Tübingen als buchbares Programm für Gruppen und insbesondere für Schulklassen angeboten.

 

Zum 31. Januar 2015 präsentierte die Journalistin und Filmemacherin Katharina Thoms im Mössinger Kino Lichtspiele die Premiere ihres Films „Widerstand ist Pflicht“, der die Theaterarbeiten zum Stück „Ein Dorf im Widerstand“ mit Blick auf den Regisseur Philipp Becker und die Mitspielerin Andrea Ayen, die Tochter des Generalstreikakteurs Paul Ayen, dokumentiert. Der Film wurde Anfang des Jahres in regionalen Kinos rundum Mössingen und im Juli 2015 in Berlin gezeigt. 

 

Im November 2015 erschien in der Reihe Materialhefte zur politischen Bildung der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg ein Heft zum „Mössinger Generalstreik“.